Wohin im Sommer? Nach Gondrexange!

Gondrexange canal kanal

Wie aus Eimern hat es letzte Nacht geschüttet. Sturm ist eine Untertreibung für das, was da gegen Türen und Fenster drückte. Wandern in den Vogesen? Fehlanzeige. Schließlich möchte man nicht wie Ödön von Horváth, seines Zeichens Dichter, von einem herabfallenden Ast erschlagen werden. Zumal auf den Champs Elysées. Was man sich nicht alles aus seinem Studium der Literaturwissenschaften behält! Oder eher: Wie wenig! Irgendwie scheint sich mir dieses, im Fluss der Weltliteratur doch eher marginale Ereignis eingebrannt zu haben. Wann immer der Wind ins Geäst fährt, denke ich: Ödön von Horvárth! Nicht: Kloppstock! Kleiner Germanistenwitz am Rande und Rätselnuss für alle, die immer mal Goethes Werther lesen wollten.

Wir fahren also ins Flachland. Juchhe! Dahin, wo es weite grüne Ebenen, schwarz-weiße Boardercollies und jede Menge Schafe gibt. Wo sich malerisch – bereits umgestürzte Eichen – in der Landschaft fläzen, ihr morsches Geäst gen Himmel strecken. Mitten im Parc Naturel Regional de Lorraine des Grand Est liegt Gondrexange. Etwa 10 km von Sarrebourg erstreckt sich die lothringische Seenplatte: Le Pays des étangs. Ein Eldorado für Wassersportler, Wanderer und maritime Vögel aller Art. Wir parken vor dem Campingplatz in besagtem Gondrexange, einem Örtchen, das aufgrund der eierschalengelben, lachs- und rosagetünchten Häuser – nicht wenige mit südländischem Schrägdach – selbst an einem 1. März mit sonnigem, fast mediterranem Charme unser Herz erwärmt.

Hauptattraktionen sind der Rhein-Marne-Kanal sowie der ausladende See, dessen älteren, kleineren Teil wir zu umrunden gedenken. Vom Parkplatz aus gehen wir ein paar Meter zurück Richtung Hauptstraße, überqueren die Kanalbrücke und biegen dann rechts auf den prima asphaltierten Treidelpfad ab. Immer geradeaus, dem Kanal folgend, vorbei an kleinen Teichen, auf denen gemütlich mancherlei Seevögel paddeln. Schwäne fliegen malerisch über uns hinweg. Schließlich überqueren wir eine grüne Eisen-Brücke. Ca. 150 m weiter klettern wir rechterhand einen kleinen Abhang (1 m) hinauf und folgen dem Pfad durch lichte Buchenwälder, vorbei an sattgrünen Wiesen – Dänemark lässt grüßen.

Ja, es ist matschig. Aber wen stört das, wenn der Liebste Sandwiches und einen verdammt heißen Kräutertee mit Honig aus dem Rucksack zaubert? Zufrieden knabbern wir als krönenden Abschluss unsere mitgebrachten Schokokekse. Am strahlend blauen Himmel segeln weiße Wolken. Ist sie da, hat die Sonne schon richtig Kraft. Zu unseren Füßen sprießen Gänseblümchen, Löwenzahn und strahlend blauer persischer Ehrenpreis. Das ist doch mal ein Frühlingsanfang, wie er im Buche steht! Wie ihr vielleicht wisst, bin ich Enid-Blyton-geprägt. Ja doch, diese altmodische englische Kinderbuchautorin. Ihre Fünf-Freunde sind mir nun mal so ziemlich als erstes literarisches Produkt über den Weg gelaufen. Wie dem Gänschen der Konrad Lorenz. Und so denke ich, wenn ich an Wasser mit Schilf, ausgedehnten Weideflächen mit Schäfchen, und Dörfern mit spitzem Kirchturm vorbeikomme: The famous five, oder einfach fem-böckerna, wie sie auf Schwedisch heißen.

Illustration Gerda Raidt
Wunderbare Illustration von Gerda Raidt aus Enid Blytons „Fünf Freunde meistern jede Gefahr“, Verlag: cbj

Im Hintergrund die blauen Berge, Les Vosges. Wenn das nicht nach Geheimnis riecht! Hier wäre ich auch gerne mit besten Freunden plus Fahrrad entlanggeradelt, hätte Unlauteres aufgespürt um mich abends an Tee und Käsebroten gütlich zu tun! In Sicherheit, bei Mama! Kinderdetektivische Ermittlungsarbeit also, bevorzugt ohne näheren Verbrecherkontakt mit einhergehender Gehirnerschütterung. Wir erinnern uns? Ödön von Horváth…?

Die Landschaft strahlt Weite, Gelassenheit aus. Unser Schritt entschleunigt sich. Es gluckert und plätschert allenthalben. Im April, Mai werden kleine Entenküken auf der gekräuselten Wasserfläche erste Ausflüge wagen. Die Teiche wurden übrigens im Mittelalter von Mönchen zur Fischzucht angelegt. Wären wir, anstatt abzubiegen, geradeaus gegangen, hätten wir den Port du Houillon, seines Zeichens ein Hafen für Freizeitkapitäne, einen sogenannten Port de Plaisance, erreicht, an dem im Sommer rund um die kleine Restauration, den Boots- (ohne Führerschein!) und Fahrradverleih (elektrisch!) munteres Treiben herrscht. Er liegt übrigens am wunderschönen Canal des Houillères de la Sarre, dem Saar-Kohle-Kanal, der ab 1866 zum Transport von Steinkohle diente.

Nach ca. einem Kilometer ebenen Geländes gelangen wir an unseren Ausgangspunkt zurück, den Campingplatz. Mit hauseigenem Plage, auf dem ein einsames quietschgelbes Schippchen liegt. Doch der nächste Sommer kommt bestimmt. Dann werden hier wieder Kinder spielen und ihre neuen Schwimmflügel testen. Es wird nach Eis- und Sonnencreme duften. Vielleicht sogar nach Kokos. Jemand wird eine Zigarette rauchen und der Rauch zu uns herüberwehn, von irgendwoher dudelt ein Radio. Auch das gehört dazu. Jedenfalls zählt Camping-Urlaub zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Aufbleiben, bis man vor Müdigkeit auf die Liege kippt. Füße erwursteln sich angenehme Positionen in einem Schlafsack, der immer zu kurz scheint. Draußen am Wäscheseil hängen die nassen Badesachen zum Trocknen. Dumm, dass es heute Nacht regnen wird. Jeden Morgen mit Luftmatratze und Schwimmtier an den Strand. Abends Würstchen vom Grill und Kartoffelsalat. Nudelsalat kam später. Wann ist noch mal die Disco im Dorfgasthof?

Wieso eigentlich muss der Nachwuchs von frühster Jugend an auf Fernreise? Nachhaltiger, oft kreativer kann doch ein Aufenthalt in der Nähe sein. Vielleicht nicht mehr, wenn die Kleinen von überspannten Resort-Animateuren bereits auf Hochleistungs-Freizeitler getrimmt worden sind. Kommt auf die Déformation touristique der Eltern an. Diese Reiseziele im lothringischen Naturpark klingen doch auch gut: Tarquimpol, Rhodes, Langatte. Ersteres ist zudem ein Hort mystischer Erzählungen und eine Fundgrube für Archeologen. Wer möchte nicht der Sage von den Mönchen lauschen, die im Étang de Lindre leben? Maritimes liegt so nah! Brauche eine Kapitänsmütze!

Was kann man hier also für einen gelungenen Urlaub tun? Wandern, Kanu, Barke und Tretboot fahren, zelten, Würstchen braten, eine urige Kota mit rot-weiß-karierten Gardinen mieten, Rad fahren, Vögel beobachten, fischen, schwimmen, sich zum ersten Mal verlieben, Wölkchen zählen, windsurfen, sich nochmal ineinander verlieben, einen Ausflug in die Vogesen unternehmen, Krimis lesen, Boule spielen, Pastis trinken, Tennis spielen, an einem Strohhalm kauen, nichts…

Das Restaurant de la Plage, ehedem übrigens ein sehr gutes, dabei preisgünstiges, hat leider dauerhaft geschlossen. Manno! Der Kota-Grill öffnet wohl erst mit Beginn der Kota-Vermietung. Die Bäckerei L´Ami du pain wird hochgelobt, glänzt mit Spezial(!)-Brot und süßen wie herzhaften Teilchen, öffnet aber erst im März. Wer schon jetzt Hunger hat: Chez Petit Jean im vier Kilometer entfernten Héming macht einen soliden Eindruck. Lasst euch von der dortigen Zementfabrik nicht abschrecken. Denkt Camelot, wehrhafte Burg. Die Leute müssen ja irgendwo ihre Flûtes verdienen. Denkt Moules Frites. Im Seengebiet – früher beliebte Sommerfrische für stressgeplagte Saarbrücker – besitzt jedes Dorf sein kleines Café-Restaurant, wenn nicht sogar einen Gourmet-Tempel.

Ach ja: Hunde sind am Strand leider nicht erlaubt. Dann wandern wir eben mit Nuri und tauchen unsere Zehen woanders in den See.

Übrigens führt der berühmte Fahrradweg EuroVelo 5 über die Treidelpfade des altehrwürdigen Saarkohle- sowie des Rhein-Marne-Kanals. Für eine mehrtägige Tour könntet ihr also in der Keramikstadt Sarreguemines einsteigen um dann durch das pittoreske Saartal über das Krumme Elsass den Parc naturel de Lorraine zu durchcruisen, bis bei Gondrexange der Canal de la Sarre mit dem Canal de la Marne au Rhin zusammenfließt.

Highlights in der Umgebung: St. Quirin, eins der schönsten Dörfer Frankreichs, zudem ein alter Pilgerort mit herzallerliebsten Kanälchen. Sieben Sakralbauten, Les sept roses genannt, zeugen von der bewegten Vergangenheit des Dorfes, lassen sich auf dem gleichnamigen Circuit erwandern. Rundherum gibt es weitere Wanderstrecken, auf denen sich Gallo-Romanisches entdecken lässt. Essen kann man etwas teurer im Restaurant du Prieuré und auch wohnen. Reservierung nicht vergessen!

Abreschviller steht ganz im Zeichen des Waldes. Nach einer ruckelig-romantischen Tour mit dem Train forestier, einer dampfgetriebenen Waldeisenbahn, durch das Tal der Roten Saar, könnt ihr hier formidabel, ebenfalls mit Vorreservierung, in der Auberge de la Forêt speisen. Wenn ihr den – ziemlich authentischen – Indianerangriff, mit dem Einheimische in den Sommermonaten Touristen erschrecken, überlebt… Die Fahrt in der liebevoll gestalteten Museumsbahn macht großen wie kleinen Kindern Spaß. Wissbegierige lernen bei einem Film, was die Eisenbahn hier früher so transportierte. Zwei große Kioske mit Sitzgelegenheit sind angeschlossen. Kauft euch ein Eis, zieht die Badesachen an und kühlt euch im Weiher um die Ecke ab. Abreschviller selbst ist übrigens ein hübscher Ort mit einer wunderbaren Gîte. Es gibt mehrere Wohneinheiten, auch für größere Gruppen. Bei schönem Wetter kann man im Garten einem munteren Bächlein lauschen. Wohnen und sehr gut essen könnt ihr auch im Hôtel du Charme Les Cigognes. Bei schlechtem Wetter reizt ein Innenpool.

Super Tipps rund um die Region findet ihr hier.

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Entenbildchen, Layout-Elemente von Canva, zusammengebastelt von mir. Alle anderen Fotos in diesem Beitrag von Stina. Beitragsbild von Stefan Strauß.

Schönen Urlaub wünscht euch

Stina

Kleine Notiz vom sturmumtosten Struth

Krokus vogesen
Struth Nordvogesen vosges du nord

Der Wind bläst kräftig an diesem Freitagnachmittag Anfang Februar. Mit einem kleinen Spaziergang ins Wochenende starten, das wollten wir. Zufällig passierten wir Struth, ganz in der Nähe des elsässischen Vorzeige-Örtchen La Petite Pierre, der kleine Stein. Struth also. Gerade mal 251 Einwohner. Und dennoch ein ganz besonderes Dorf. In zweierlei Hinsicht: Hier gibt es eine Synagoge sowie einen Garten der Steine. Angelegt von Monsieur Pierre Richard – nein, nicht dem Pierre Richard. Eine ganze Menge Steine also, und damit scheinen bei Weitem nicht alle Geheimnisse des Dorfes gelüftet zu sein.

Wuthering Heights. Die Frisur hält nicht. Wir beschließen noch ein wenig durchs Dorf zu bummeln. Beschaulich, unaufdringlich liegt es in der noch zögerlichen Februarsonne. Und recht eben. Ideal zum Fahrradfahren. Könnte auch in Norddeutschland liegen. Der Birnbaum des Herrn von Ribbeck kommt mir unweigerlich in den Sinn. Doch der ist derzeit noch kahl. Stattdessen haben sich die ersten Frühlingsblüher ans Licht gewagt: Winterlinge, Schneeglöckchen, Krokusse. Auch die Häuser und Gärten sind herausgeputzt. Windpiele in den Bäumen, fantasievoll geschmückte Blumenkästen vor den Fenstern, Gartenplastiken in Rostoptik. Man hat den Eindruck durch ein Künstlerdorf zu gehen. Worpswede lässt grüßen. Inzwischen sausen uns die Ohren. Nein, leider, ein Café finden wir hier nicht. Wir beschließen nach Hause zu fahren.

Zuhause, bei einer heißen Tasse Earl Grey und selbstgebackenem Birnen-, nein, Apfelkuchen, finde ich heraus, dass wir an dem ein oder anderen Kleinod vorbeigeweht sind. Allein die kleine Synagoge samt altehrwürdigem Friedhof sind Grund genug also einmal wiederzukommen. Vom siebzehnten Jahrhundert an lebten hier jüdische Familien in friedlicher Eintracht mit – sage und schreibe – vier anderen Religionen. Neben der kleinen neoromanischen Synagoge gab es eine jüdische Schule, heute die Mairie, sowie ein rituelles Bad. Etwas von der Weltoffenheit Struths scheint auch heute noch den Ort zu durchwehen. Doch auch hier mordeten und deportierten die Nazis, machten vielfältiger Kultur ein grausames Ende. Eine Mahnung an uns alle: Wir sollten solchen menschenverachtenden Banden keinesfalls wieder Raum in Deutschland und Europa gewähren. Wir haben die Wahl…

Die Region wirbt übrigens mit dem Slogan „L´océan c´est la fôret“ dafür in die wunderbaren Vogesenwälder abzutauchen. Wer das freundliche Ländle im Département Bas-Rhin erkunden möchte, findet eine übersichtliche Schautafel im Ort. Und dann ist da noch der Jardin de Pierre. Frankreichkenner Gerd Heger, vom Saarländischen Rundfunk, hat einen ausführlichen und schönen Artikel über diese kleine Oase der Ruhe geschrieben. Konnte allerdings nicht in Erfahrung bringen, ob der Garten im englischen Stil noch für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Aber es gibt eine Telefonnummer. Gleiches gilt für die Synagoge. Mehr über sehenswerte Gärten im Elsass erfahrt ihr auch hier.

Übernachten kann man in dieser Ferienwohnung. Leider habe ich kein Gasthaus entdeckt. Aber im Umland gibt es reichlich. Mit dieser kleinen Notiz möchte ich euch lediglich inspirieren einmal absteits der Pfade zu wandeln. Die kleinen Struths rechts und links des Wegs zu entdecken. Haltet die Augen offen. Braust nicht einfach so durch.

Und hier noch ein paar Frühlingsgrüße aus meinem Vogesen-Garten. Wenn ich an einem Samstagmorgen durch das leise sprießende Grün spaziere, geht mir das Herz auf. Ein paar freche Blaumeisen zwitschern, knabbern schon an den Futterknödeln. Hie und da lugen schüchtern ein paar Krokusse hervor. Die Luft riecht samtig-frisch. Bin – wenn auch nur zeitweise – Landbewohner. Endlich durchatmen!

Schneeglöckchen
„Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute…“

Gestern habe ich Veilchen entdeckt! Und die ersten Zugvögel sind auch schon über uns hinweggezogen!

Einen wunderschönen Vorfrühling wünscht euch

Stina

Kleiner Spaziergang durch Sarralbe an einem verregneten Sonntag – Oder: Brat mir bitte keinen Storch!

Es regnet Bindfäden. Jeder weiß: Wer sich an einem nassen Sonntag auf dem Sofa herumdrückt, wird tranig und übellaunig. Außerdem gibt es Schirme und Regenjacken mit Kapuze. Wer sich jetzt nach draußen wagt, bekommt die Chance, Städte und Gemeinden von ihrer anderen, melancholischeren Seite kennen zu lernen. In unserem Falle Sarralbe.

Dabei war die kleine Stadt am Rande der Nordvogesen nie so pittoresk wie ihre elsässischen Schwestern entlang der Weinstraße. Jeglichem Puppenstuben-Klischee würde schon das riesige, hypermoderne Chemie-Werk am Ortseingang im Wege stehen. Ein schillerndes Ufo, das sich klammheimlich auf den Wiesen am Ortsrand niedergelassen hat und geblieben ist. Davor, dicht gedrängt eine Reihe unscheinbarer Ziegelhäuser. Eine Kulisse wie aus einem englischen Kohlerevier. Our house in the middle of the street. Ich assoziiere hart arbeitende Menschen, Kohlsuppe um 12 und billige Schminke für die Kleinstadt-Disco am Samstagabend. Die ältere Schwester blockiert deshalb stundenlang das Badezimmer. Das, was jeder aus der unteren Mittelschicht kennt. Im Zentrum dann eine breite Straße, gesäumt von unspektakulären Bürgerhäusern, die schon bessere Zeiten gesehen haben. Kein Jugendstil, kein Fachwerk. Dafür eine neo-gotische Kirche, auf die alles hinausläuft. Die Reste eines mittelalterlichen Stadt-Tors. Warum also, um Gottes Willen, sollte man hier halt machen?

Farbig auf den zweiten Blick: Sarralbe

In Saaralbe ist nichts offensichtlich. Aber vieles liegt in der Luft. Erinnerungen an die Kindheit. Der Geruch herbstlichen Laubs auf regennassen Straßen. Das leicht muffige Odeur alter Häuser. Kleine Geschäfte. Wie aus den Sechzigern. Die Deko: Silberne Glitter-Girlanden, kleine Gipsfiguren, eine Weihnachtspyramide aus verblichenem Holz. Was der Familienschatz so hergibt. In einem kastenartigen Bürgerhaus ein Elektroladen mit spärlicher Auslage. „Wer kauft denn hier noch ein?“, frage ich mich. Ich hoffe, alle. Frankreich, wie ich es liebe. Eine Kebab-Bude leuchtet grell auf den Asphalt. Schon zum dritten Mal rasen zwei gelangweilte Jugendliche auf ihren Vélos an uns vorbei. Aus an den Lenker montierten Handys wummert arabischer Techno. Mein Mann und ich lustwandeln. Plitsch, platsch.

In Sarralbe gibt es kein Das-muss-ich-sehen. Hier entdeckt man. Ist überrascht. So von La Maison des têtes, mit den gemeißelten Steinköpfen berühmter Lokal- und anderer Größen. Ein Who-is-who in Sandstein. Ob Jeanne d´Arc wirklich so ausgesehen hat? So unheroisch. So normal? Wir folgen einem Wegweiser: Moulin. Schmuckloser Beton ragt vor uns auf. So gar nicht Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Ehrlicher. Hier geht´s nicht weiter. Wieder zurück. Die kleine Stadt macht auf sich aufmerksam. Dezent, detailverliebt, poetisch. Man muss sich schon ein bisschen anstrengen, um Illustres zu entdecken, den Hals recken – auf der mittelalterlichen Porte d´Albe dreht sich eine zierliche Nixe als Wetterfee. Und fast übersieht man die ins Trottoir eingelassenen Metall-Vignetten, die den Parcours des Cigognes anzeigen.

Der Storch also. Genauer gesagt: der Weißstorch. Protagonist unzähliger Märchen, Mythen, Fabeln, Bauernregeln vom Orient bis nach Skandinavien. Seit 1871 Symbol für das Elsass und der Topseller in Souvenir-Läden. Und nein, die lothringischen Autokennzeichen der Region 54 tragen keine drei übereinander fliegenden Bumerangs, sondern stilisierte Störche. Ehemals, so erzählt eine Legende, sei er ganz weiß gewesen. Als er aber ein Schlachtfeld überflog, soll er – aus Trauer über dieses Abbild überbordender menschlicher Dummheit und Grausamkeit – Gott gebeten haben, seine Schwingen in Asche tauchen zu dürfen. Ein tiefgründiger, mystischer Vogel. Sein poetischer Zweitname Adebar beziehe sich – so erfährt man auf einer der Schautafeln – auf Hulda, die germanische Göttin von Liebe, Fruchtbarkeit aber auch Tod. Man denke an das pädagogisch zwiespältige Märchen von Frau Holle. Ich meine, ich bin ja auch nicht gerade ein Putzteufel und möchte deshalb trotzdem nicht mit irgendwelchen ekligen Substanzen übergossen werden…

Wer im Frühjahr den Störchen bei der Aufzucht ihrer Jungen zusehen möchte, kann einen der zahlreichen Storchen-Parks im Grand Est besuchen. Oder eben den Parcours der Störche in Sarralbe durchlaufen. Über einem Storchen-Nest wurde sogar eine Webcam installiert. Seit jeher gilt der Storch als Symbol elterlicher Liebe und Fürsorge. Er bringt ja auch die Kinder. Nach erfolgreicher Lieferung sollte man sich mit einem Zuckerstückchen bei ihm bedanken. Bei unerfülltem Kinderwunsch, Achtung: Präteritum!, half es den Blick eines Storchenpärchens, am besten face to face, zu suchen. Eine Metapher für einfach mal Loslassen und Fliegen? Uneheliche Kinder wurden im Elsass gerne mal in Feuchtgebieten gefunden, also dort, wo der Storch mit Vorliebe herumstapft. Als seien sie der Mutter direkt vom Himmel in den Schoß gefallen. Ich hoffe nur, dass diese wunderbare Erklärung die armen Frauen vor Schrecklicherem bewahrt hat. Ausführlicheres erfahrt ihr auf den Schautafeln entlang des Parcours, der euch auch die übrigen Preziosen des Städtchens erschließt. Das Wahrzeichen von Sarralbe ist sinnigerweise der Frosch, den man auch in der Apsis des alles dominierenden Gotteshauses findet, der Cathédrale Saint-Martin. So Gothic. So – pardon – english. 1907 erbaut. Gruselige Wasserspeier allenthalben. Halloween-Feeling. Drumherum haben sich die Blätter der Bäume gelb gefärbt. Der richtige Platz für Enid Blytons Fünf Freunde. Sicher hätten sie hier ein Geheimnis aufgespürt. Sicher wären sie abends in eins der Häuser zurückgekehrt, um sich bei heißem Tee und Butterbroten aufzuwärmen. Fehlt nur noch ein kugelrunder Bobby auf dem Fahrrad samt Custodian-Helmet. Wie habe ich diese Geschichten geliebt. Besonders die Anfänge. Die lese ich zuweilen heute noch, um mich nach einem anstrengenden Arbeitstag geistig zu entknoten. Da waren immer Ferien, und jede Menge Abenteuer in Sicht. Auf dem Boden entdecken wir endlich einen goldenen Wegweiser mit einem Storch darauf. Auf der anderen Seite des Turms wirbt ein großformatiges Plakat mit Riesen-Adebar für den kleinen Stadtrundgang. Irgendwie kommen wir vom Weg ab. Landen vor der Bibliothek. Auch so ein Kindheits-Platz. Diese hier lädt alle zum Lesen ein. En toute liberté. Wie beruhigend und schön. Dass es Leute gibt, die sich um Bücher kümmern, Phantasiewelten verwalten. Aber heute ist Sonntag. Ruhetag. Keine Revolution. Non. Pas aujourd´hui.

Hell erleuchtet eine Boulangerie-Pâtisserie. Kleine Vogelscheuchen aus Stroh, orange, braun, gelb, hocken auf der Theke. Hier drin wimmelt es von Kunden, obwohl der Rest der Stadt im zunehmenden Regen wie ausgestorben wirkt. Wir kaufen zwei wirklich süße Creme-Teilchen und traben weiter durch den Regen. Friedlich. Abgesehen von den modernen Autos könnten wir uns auch in den Sechzigern oder Siebzigern befinden. Kleinstadtatmosphäre. Erinnert an Vivejoie-La-Grande, Bennoît Brisefers Heimatstadt mit dem sinnreichen Namen. Benni Bärenstark, Starke Staffan, wie er auf Deutsch bzw. Schwedisch heißt, ist eine Comic-Figur des belgischen Zeichners Peyo, der seinem Superhelden 1960 das Leben schenkte. Ein höflicher, wissbegieriger Junge, der mit schwarzer Baskenmütze und rotem Supermann-Umhang gegen das Böse kämpft. Seine Superkräfte verlassen ihn jedoch, sobald er einen Schnupfen bekommt.

Und während ich so an den gutmütigen, mutigen Bennoît mit seiner kleinen Schwäche für Süßes denke, denke ich auch an das Erstarken der Rechten in Europa. Wie lächerlich ist es 2019 eigentlich noch, sich wegen Hautfarbe, Religion, Herkunft in die Wolle zu kriegen? Und wer glaubt wirklich, dass unter deren Knute irgendetwas besser würde? Am Ende heißt es nur: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Differenzierungen stören da gewaltig. Ich denke aber auch an die vielen Menschen, die mit offenem Herzen auf Menschen der jeweils anderen Kultur zugehen – was ein wechselseitiger Prozess ist – die beim lauten Geschrei der Rechten allerdings nicht mehr wahrgenommen werden. Was schade ist, da wir aus dem Positiven schöpfen sollten. Aus ständig propagierter Ohnmacht erwacht man nur mit üblen Kopfschmerzen. Ungenießbar für andere. Die meisten von uns wollen nicht mehr oder weniger, als allein oder mit ihren Lieben in Ruhe leben, sich frei entfalten zu können. Spießig? Vielleicht. Aber ein menschliches Bedürfnis. Allerdings: Menschen, die andere ausnutzen oder Schlimmeres gibt es überall auf der Welt. Jedweder Couleur. Auch das ist menschlich. Wie die Angst vor dem Fremden. Wir werden sie nicht verdrängen können, aber mit ihr umzugehen lernen. Die beste Methode ist, seinem Feindbild gegenüber zu treten. Seinen afghanischen Nachbarn mal zum Grillen einzuladen. In den seltensten Fällen werden wir dabei an einen Frauenmörder geraten. Eine syrische Kurdin aus meinem Integrationskurs hat eines Abends mit ihrer Familie die Matratzen in den Vorgarten geschleppt um ein Picknick zu veranstalten. Vorbeifahrenden – und fast alle blieben stehen – bot sie Tee und orientalische Süßigkeiten an. Sie liebt das Saarland, wo sie seit zwei Jahren lebt, weil die Leute hier so freundlich sind, sagt sie, und weil sie hier endlich Lesen und Schreiben gelernt hat. So geht Integration – von beiden Seiten.

Gleichwohl wurde ich, als ich in einem anderen Kurs einen ständig zu spät bis gar nicht kommenden Teilnehmenden zur Pünktlichkeit mahnte, von diesem als Nazi beschimpft. Mir blieb die Spucke weg. Ich hatte auch keine Lust, zu verstehen, was hinter dieser Verbalattacke stand. Ich war nur sauer. Aber sollte ich deswegen meine hohe Meinung über vierzehn liebenswerte Menschen im selben Kurs in den Wind schlagen? In solchen Momenten verblasst natürlich die positive Erinnerung an die Teilnehmende mit ihrem Picknick, weil sie nicht derb daherkommt. Zukunftsträchtiger, menschlich produktiver wäre sie allerdings. Genauso wie mir bleibt den „Ossis“ die Spucke weg, die derzeit nicht nur von der Presse in ihrer Gesamtheit als rechts dargestellt werden. Genauso geht es dem Araber, dem wie selbstverständlich Vielweiberei unterstellt wird. Wann geben wir endlich unser Baukasten-Denken auf und sehen stattdessen den einzelnen Menschen? Probleme müssen angesprochen werden, um sie lösen zu können. Wir befinden uns zurzeit im Bällchen-Paradies der Schuldzuweisungen. Global. Und da wird die Luft zum Atmen langsam knapp.

Ich denke an den IS, der Menschen terrorisiert, ermordet, zumindest aber aus ihrer Heimat vertreibt. Niemand verlässt so einfach sein Haus, seine Familie und setzt sich einer Traurigkeit aus, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird. Und wenn ich hier so entlang spaziere, durch diese kleine Stadt, dann merke ich, wie wichtig es ist, dass wir eine haben. Eine Heimat. Nicht jeder ist in seiner Heimat geboren. Manche verlassen sie freiwillig, manche müssen, manche wollen bleiben. Manchmal ist Heimat in einer Situation. Wir spüren sie. In einer Landschaft. Im Kreise lieber Menschen. In einer Erinnerung. In einem Traum. Wir müssen sie immer wieder suchen. Immer wieder. Zusammen.

Sarralbe ist eine französische Gemeinde im Département Moselle in der Region Grand Est. Der Ort gehört zum Arrondissement Sarreguemines und ist Hauptort des Kantons Sarralbe. Sarralbe hat 4556 Einwohner auf 27,29 km² und ist hinter Saargemünd und Bitsch die drittgrößte Gemeinde des Arrondissements. Quelle: Wikipedia

Also rein in die Gummistiefel und vergesst den Regenschirm nicht!

Eure Stina

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