Mehr als einen Flügelschlag, nämlich zwei Anläufe, brauchten wir, um uns den sagenumwobenen Étang de Lindre zu erwandern. Das erste Mal kamen wir gerade bis Tarquimpol, bis uns heftiger Regen und Wind ins sichere Auto zurück trieben. Ein Kommentar zu meinem Artikel über Gondrexange hatte uns neugierig gemacht. Untote Mönche, Wassergeister… Riefen uns da nicht die lothringischen Nebel von Avalon? Leider hatten sie nichts von einem Regenschirm gesagt.
Man muss sie mögen, diese Landschaft. Manche werden murren: Zu eben, zu wenig los, zu viele Schafe. Ja, all dies trifft auf das Pays Saulnois zu, das, so lesen wir, touristisch wenig zu bieten hat. Außer man steht auf eben „zu wenig los“ und mag Schäfchen, die bei Regen zugegebenermaßen eher traurig daher trotten, im Sonnenschein aber übermütig von Löwenzahn zu Gänseblümchen hüpfen. Wenn ich echt mal in mich gehen möchte, dann ist dieser Landstrich genau das Richtige. Schon stelle ich mir vor, wie der Wind bauchige, anthrazitfarbene Wolken übers Land treibt, während ich mich, den Mantelkragen hochgeschlagen, gegen peitschende Herbststürme stemme. Ganz allein auf weiter Ebene und, sagen wir, zwanzig Jahre jünger. Die Gischt vom nahegelegen See peitscht mir ins Gesicht. Marke Dartmoor. Hund von Baskerville. Irgendein alleinstehender, gutaussehender Graf harret meiner hinter einem Ginsterbusch, damit er mich halbverhungert zum Tee und süßen Petitfours einladen kann. Über mir rauschen Wildgänse mit schrillem Schrei gen Süden… Aber noch ist Sommer. Marke Grillgut und Dosenbier.
Daran ändert auch das jäh auftauchende Schloss nichts, das, wenngleich geraniengeschmückt, wunderbar in diese introvertierte, bei Regen dezent düstere Szenerie passt. Wen wundert´s, dass in jenem Château ein Esoteriker namens Stanislas de Guaita (1871-1922) das diffuse Licht der Welt erblickte um späterhin den kabbalistischen Rosenkreuz-Orden zu gründen. Heute, beim, wie gesagt, zweiten Anlauf, wirkt das Château keineswegs düster, sondern äußerst gastfreundlich. Fürstlich übernachten soll man hier können, exklusives Frühstück inklusive, bevor man zu einer Wanderung oder Radtour auf dem Circuit des étangs aufbricht. Wenn man den Hausherrn schön bittet, so erfahre ich aus dem wunderbaren SR-Beitrag von Natalie Weber, erzählt er das eine oder andere gruselige Schmankerl aus der Region. Das Château d’Alteville gehört zu dem kleinen Örtchen Tarquimpol, das am Südufer des Étang de Lindre, auf einer Halbinsel gelegen ist und zum Parc naturel régional de Lorraine zählt. Bei knapp 65 Einwohnern, plus/minus, und einem (hoffentlich) in Frieden ruhenden Esoteriker, steppt hier nicht gerade der Bär. Dicht an dicht drängen sich die putzigen Häuschen im typischen lothringer Graubeige. Einzige Farbtupfer: Die bunten Fensterläden und Türen. Und die üppigen Geranien. Irgendwie bretonisch. Irgendwie maritim. Irgendjemand muss hier leben, sonst würden ja die Blumen vertrocknen. Wir aber treffen nur einen struppigen Hund mit Schielauge, der sich von uns streicheln lässt. Das Dorf ist, wie der Hund, die Ruhe selbst. Um die archäologischen Details zu erkunden, die sich in Hauswänden, Torbögen etc. verstecken, wollen wir wiederkommen. Am Ortseingang wacht, rund und massiv wie ein Bergfried, die für Lothringen sehr untypische Dorfkirche. Dann gibt es eine Rue du théatre, die doch tatsächlich auf eines der größten Amphitheater Galliens hinausläuft, welches allerdings nur aus der Luft auszumachen ist. Tarquipol liegt nämlich an der alten Römerstraße von Metz nach Straßburg, und so konnten hier schon mal 12.000 Zuschauer bei Spiel und Spaß an frittierten Otternasen knabbern. 1274 zum ersten Mal als „Tackempail“ erwähnt, durchlief der Weiler deutsch-französische Namensmetamorphosen, die allesamt etwas mit „Teich“ zu tun hatten. Trotzig überlebte es auch die deutsche Besatzung, indem es elegant vom plumpen „Taichen“ zum geheimnisvollen Tarquimpol zurückkehrte. So hieß es schon während des Dreißigjährigen Krieges. Sind wir froh! Denn merke: Nazis haben keine Phantasie! Und wenn, dann nur schlimme.
Im 10. Jahrhundert begannen Mönche den kleinen Fluss Seille, die umliegenden Weiher und Sümpfe aufzustauen um Fische zu fangen und zu züchten. Einmal im Jahr wird das Wasser des Teichs, der doch vielmehr ein See ist, abgelassen, wobei sich die Kanäle zur Freude der Fischer mit Karpfen, Schleien und Hechten füllen. Schon scharren internationale Archäologen mit den Füßen, können sie doch endlich nach den Relikten vergangener Zeiten gründeln. Will man allerdings etwas über Mönche wissen, die auf dem Grunde des Sees immer noch unermüdlich der Fischzucht frönen, gar lockenden Feen erliegen oder vor gottlosen Wüstlingen erschauern, muss man tief in der Volksseele graben. Oder den Schlossherrn befragen. Unter Umständen bringt mir dieser Reim den Pulitzer-Preis ein. Da! Schon wieder!
Um den eigentlichen Weiher zu umrunden, sollte man sich nach Lindre-Basse begeben. Der schnurgerade Weiler liegt ca. 3 Kilometer von Dieuze, einem typisch lothringischen Städtchen mit – natürlich – einer Bar du Centre sowie einer Bar Place, in der man seinen Apéritif genießen kann, entfernt. Ein kleines, aber feines Restaurant wirbt mit regionalen Spezialitäten. Aber davon später. Zunächst einmal fahren wir durch die unaufgeregt ebene Landschaft, die der Seele, ach, so gut tut. Links und rechts Getreidefelder, dazwischen goldene Sonnenblumen, kleine Wäldchen, die sicherlich viel Wild bergen, da Rehe und Füchse über die Straße wechseln. Lindre-Basse, ebenfalls in lässiger Beschaulichkeit, überrascht am Ende der Hauptstraße mit einem überwältigenden See-Panorama. Über uns segeln Schwalben, Störche landen auf ihren Nestern, Fischreiher gründeln nach dem, was sie halt so fressen, Enten jeglicher Couleur paddeln im Schilf. Wir blicken über den größten Fischweiher Frankreichs (620 Hektar!) samt Vogelschutzgebiet. Ein Paradies für Ornithologen, die, ausgerüstet mit Fernglas, Anglerhut und glänzenden Augen Richtung Vogel-Beobachtungs-Stand pilgern. Ein grauhaariger Herr führt mit großer Geste ein gut situiertes Pärchen in die Geheimnisse des Étang de Lindre ein. Wir vermuten, man kann ihn buchen.
Blau, grau und gelb ruht der See. Über uns der hohe Himmel, Schäfchenwolken, allenthalben Gezwitscher. SOMMER. Im Hintergrund die dunstig blaue Vogesenkette. AusflüglerInnen relaxen auf Aussichtsbänken, in der Aire-de-pique-nique wird Käse, Baguette und Wein ausgepackt. Rechts von uns liegen die steineren Fischzucht-Becken, die derzeit allerdings kein Wasser tragen, links geht´s die Staumauer – Obacht! – hinab. In entgegengesetzter Richtung befindet sich die ornithologische Kinderstube, wo Hunde keinen Zutritt haben. Wir lenken unseren Dackel also wieder Richtung Fischbecken. Zwei Wanderpfade führen um den See. Die Kurzpromenade „Sentier des Paysages“ von 1,8 sowie der etwas längere „Sentier Lindre-Tarquimpol“ von 8 km. Dabei sollte man sich immer links halten, also immer am Seeufer entlang gehen. So kommt man auch an den Beobachtungsstationen vorbei.
Der Weiher selbst blitzt nur noch ab und an durch, da Waldpassagen und Schilf ihn verdecken. Ist aber trotzdem schön. Nimmt man ein Stück wenig befahrener Straße in Kauf, kann man also bis nach Tarquimpol wandern, muss dann aber wieder umdrehen, denn es handelt sich nicht um Rundwanderwege! Für Wissensdurstige gibt es das Centre piscicole, das Fisch(erei)-Zentrum in Lindre-Basse gegenüber der Staumauer, das Spannendes und Wissenswertes über lokale Geschichte, Traditionen, kulturelles Erbe, Umwelt, Natur und touristische Sehenswürdigkeiten zu bieten hat. Enthusiasten hängen noch 3 Kilometer dran um sich von Dieuze aus über den Sentier de l´étang des Esserts zu nähern. Dieuze ist übrigens eines der Tore zum wunderbaren Parc naturel régional de Lorraine. In der kleinen Stadt wurde früher Salz gewonnen. Zahlreiche Bauten wie die Porte des Salines Royales zeugen davon.
Passend zur Salzgewinnung gibt es in Dieuze das kleine Restaurant La Poêle à Sel – Restaurant Traditionnel & Cuisine Maison mit gemütlicher Außenterrasse. Leider hat die Küche Sonntagabend geschlossen, sodass wir unseren Besuch auf ein anderes Mal verschieben mussten. Die Betreiber waren jedenfalls ausnehmend freundlich. Irgendwann also mehr dazu.
Also: Wenn ihr mal ein wenig Meerfeeling mitten in Lothringen genießen wollt, ist der Étang de Lindre genau das Richtige. Und die Nordvogesen sind ja auch nicht weit. Man hat sozusagen beide Extreme in unmittelbarer Nähe. I love it! Einen schönen Juli wünscht euch
Stina
Pays des étangs – Land der Teiche
So nennt man die weitläufige, weitverzweigte Seenlandschaft, die sich im Osten Lothringens befindet. Bekannt sind vor allem Stauseen wie Stockweiher oder Mittersheimer Weiher. Sie dienen als Speicherbecken für den parallel zur Saar verlaufenden Saar-Kohlen-Kanal, der die Saar mit dem Rhein-Marne-Kanal verbindet und somit in das umfangreiche Netz französischer Wasserstraßen einbindet.
Der Étang de Lindre liegt zusammen mit 11 weiteren Weihern in der Domaine de Lindre, einer ca. 1000 Hektar großen Naturlandschaft, die aufgrund ihrer umfangreichen, einzigartigen Flora und Fauna als Teil des europäischen Schutzgebiet-Netzes NATURA 2000 ausgewiesen sind. Es steht zudem als RAMSAR-Gebiet auf der Liste des Weltnaturerbes zum Schutz von Feuchtgebieten.
Die Domaine de Lindre gehört zum Kanton Le Saulnois des Arrondissements Sarrebourg-Château-Salins. Die übergeordnete Verwaltungseinheit ist das Département Moselle der Region Gand Est.