Gerade hat mich ein heftiger Sommerregen wieder ins Haus getrieben. Wie so häufig in diesem Jahr. Unser Vogesen-Garten ist so dicht und grün, wie schon lange nicht mehr. Ein richtiger Dschungel. Obwohl vieles zurückgeschnitten werden müsste, habe ich die Gartenschere erstmal ganz unten in die Schublade verbannt. Zumal unglaublich viele, piepsende Jungvögel unterwegs sind, die in Hecken, Bäumen, sogar auf Grashalmen auf die eine oder andere fette Raupe warten, welche die emsigen Eltern unermüdlich herbeischaffen. Da würde eine emsige Stina nur stören. Zeit, anderweitig ein wenig produktiv zu werden, dachte ich mir also. Lange schon wollte ich die beiden Bilder mit den im Kirschbaum lesenden Mädchen in meinen Blog stellen. Denn ich glaube, dass gerade diese beiden Mädchen, die realiter schon erwachsen sind, sich – trotz ihres stressigen Alltags – die Zeit zum Lesen nehmen sollten. Lesen ist schön. Kirschbäume sind ebenfalls schön. Eine Verbindung von beidem ist schier unübertrefflich. Jetzt sitzen sie also da. In ihren karierten Blusen, kurzen Hosen und roten Schühchen. Jedes auf seiner Seite. Vertieft in ein sicher spannendes Buch. Weltvergessen. Selbstbewusst. Geborgen. Denn immer noch ist da die Straße, wo sie mit ihren Eltern wohnen, die Häuser mit ihren heimelig erleuchteten Fenstern und den Geranien davor. Vielleicht steht das Abendessen schon auf dem Tisch. Vielleicht ist bald Schlafenszeit. Gleich wird jemand die beiden hereinrufen. Da heißt es die letzten Minuten in Freiheit zu nutzen. Ja, so könnte es gewesen sein. Mag sein, das Bild erinnert die beiden auch nur an die Stimmung. Damals, in den sommerwarmen Nächten. Auch gut.
In der Tat findet man erwachsene Leser nur noch höchst selten in den Kronen, oder wenigstens auf den unteren Ästen eines alten Baums. Versteckt vor der Außenwelt. In ihrem eigenen, kleinen Fantasie-Reich. Sei es aus Angst vor krabbelndem Getier oder einfach aus Bequemlichkeit: Auch ich sitze oder liege in den dafür vorgesehenen Möbelstücken. Außerdem bestünde die Gefahr, dass der ein oder andere Ast bricht.
Aber ich stelle mir zumindest vor, wie es war. Damals im Kirschbaum. Mit einem zerfledderten Donald-Duck-Heft oder den Fünf Freunden auf Abenteuerfahrt zur Felseninsel. Vielleicht fangen sogar gerade die unermesslich langen Sommerferien an. All das stelle ich mir vor. Auch wenn ich nur in einem Liegestuhl lümmele. Wenn mein Mann dann noch eine Zigarre raucht, ist das Glück vollkommen. Das hat mein Vater auch getan. Und irgendwie verbinde ich den Duft mit Ferien, Samstag, Freiheit, Lesen, Abenteuer. Wenn dann noch ein Nachbar irgendwo den Rasen mäht, der Duft des frisch geschnittenen Grases in meine Nase weht, bin ich wieder zwölf. Das war der wirklich gute Teil der Kindheit und Jugend. Der Teil, den man sich bewahren sollte.
Welch ein Glück! Von unserem Balkon aus sehe ich den Kirschbaum unserer Nachbarn. Ich liebe den Blick mitten ins üppige Grün. Ganz besonders, wenn Ende April die Blätter Gesellschaft von abertausenden Blüten bekommen. Praktisch über Nacht explodiert der schon betagte Baum in reinweißen Blüten, die von Bienen, Hummeln, und neuerdings, einer Art fliegendem Skorpion besucht werden. Habe recherchiert. War der schwarze Moderkäfer, und ich bin zum Glück auf mehr als 20 cm Abstand geblieben. Instinkt nenn ich das. Kirschbäume also. Als Kind bin ich ständig in einem herumgeklettert. Denn klaro hatten wir einen im Garten. Sogar mit süßen, weißen Kirschen. Eine Rarität. Jeden Tag backte meine Großmutter einen Hefeboden, den sie dick mit Kirschen belegte. Dazu gab´s jede Menge Sahne. Phantastisch! Kalorien wurden damals nicht gezählt, denn irgendwie waren wir als Kinder ständig in Bewegung. Spielten Federball, Völkerball (Keine Gnade mit Brillenträgern!), schaukelten, hüpften. Mit meiner damals besten Freundin baute ich ein Baumhaus, auf dem wir stundenlang spielten, quatschten, merkwürdige Pläne ausheckten, wie den für ein Gestüt Steine zu sammeln, da ich aus irgendeinem Grund dachte, Pferde würden gerne über Steine gehen. Die Schlepperei hätten wir uns sparen können, denn wir wurden von dem fuchsteufelswilden Besitzer des Platzes verwiesen. Doch zurück zum Kirschbaum. Selbst meine ältere Schwester schwang sich ab und an auf einen der ausladenden Äste. Bewaffnet mit Apfel und Schmöker. Und wollte unbedingt ohne kleine Schwester verweilen.
Ganz besonders gerne saß ich nach dem Abendessen noch ein Weilchen im Baum. Meine Mutter und Großmutter klapperten mit dem Geschirr, während ich zwischen ein paar späten Hummeln und frühen Nachtfaltern vor mich hinträumte. Die Luft war voll vom Duft des aufsteigenden Taus. Der Tag ging schlafen, atmete noch einmal tief durch. Später würde ich auf der Terrasse sitzen, auf der alten Hollywood-Schaukel, und mit den anderen Frauen der Familie ein paar Volkslieder trällern. Mmh, schön. Etwas, das ich vor dem Schlafengehen nur empfehlen kann.
Irgendwann hat er nicht mehr getragen. Unser Kirschbaum. Ganz hohl war sein Stamm geworden. Bei der leichtesten Berührung brachen zunächst bemooste Zweige, dann ganze Äste ab. Seine Zeit war wohl gekommen. Mein Vater, weniger Gärtner als ein Fan von Schneidewerkzeug aller Art, sägte ihn ab. Meine Mutter weinte. Die Großmutter zeterte. Eine Ära ging zu Ende.
Sozusagen als Ersatz wurde ein drahtiger Sauerkirschenbaum gepflanzt, der, nach Aussagen meines Vaters, eine gewisse Größe nicht übersteigen, geschweige denn ein Baumhaus verkraften würde. Wir nuckelten mit säuerlich verzogenen Gesichtern an seinen mickrigen Früchten, veranstalteten Kernspuckwettbewerbe und trauerten den süßen Kirschen des alten Weggefährten hinterher. Übriggeblieben von der ganzen Pracht waren Reihen von Eingemachtem. Mit der Zeit bekamen die eingekochten Kirschen eine unappetitlich bräunliche Patina, rückten im PVC-beklebten Regal (beige-braune Karos!) immer weiter nach hinten. Noch 20 Jahre später standen die hohen Gläser im Keller, bis wir sie schweren Herzens in den Garten kippten, wo sie wenigsten noch ein paar Amseln besoffen, vielleicht auch betroffen, machten.
Wenn ich heute in den Garten meiner Schwiegereltern schaue, ist da eine kleine, wie soll ich sagen, Kirschbaum-Ruine. Die Überreste des anlässlich der Geburt meines Mannes, vor deutlich über fünfzig Jahren, gepflanzten Kirschbaums. Einst ein Prachtstück, hatte ein Nachbar seine Wurzeln gekappt, weil die Äste auf sein Grundstück ragten, die im Herbst herabfallenden Blätter zudem „zu viel Dreck“ machten. Nachdem eine Stammhälfte derart masakriert worden war, trieb der arme Baum nur noch spärlich aus. Immerhin, seine bessere Hälfte durfte bleiben. Zuweilen denke ich, dass Kirschbäume es schwer haben in dieser Welt. Kaum scheinen sie für uns Menschen nicht mehr produktiv, werden sie entsorgt. Stefans Baum kenne ich noch in strahlendem Blütenschmuck, den er im April zu den drei aufeinanderfolgenden Geburtstagen der Kernfamilie meines Mannes stolz präsentierte. Jetzt klettern eine Rose nebst Hortensie an ihm in die Höhe. Es wimmelt von Insekten, Vögel bauen sich Nester in das grüne Gewirr. Während der bereits erwähnte Kirschbaum des Nachbarn gegenüber weiterhin unverdrossen und prachtvoll blüht, wir ihn vor allen Dingen von unserem Balkon aus sehen können. Aber der erste Kirschbaum bleibt doch immer etwas Besonderes. Noch heute denke ich manchmal an ihn. Unseren geliebten Kirschbaum.
Der Kirschenbaum
Gedicht von Hugo Salus (1866 – 1929) aus „Reigen“
Heut hatt‘ ich einen Kindertraum.
Sein Inhalt war: ein Kirschenbaum,
Sonst nichts. Der war so kirschenschwer,
Man sah von seinem Grün nichts mehr.
Der rote Baum stand ganz allein
Und strahlte nur von Sonnenschein.
Die Kirschen waren wie aus Glas,
Was für ein heller Glanz war das!
Wie ich so in die Kirschen guck‘,
Aus jeder Kirsche, wie ein Spuk,
In kirschen-, kirschenrotem Licht
Lacht mir entgegen mein Gesicht.
Zehntausend Kirschen sicherlich,
Nicht übertrieben, zählte ich;
Nun stellt euch vor, zehntausendmal
Lacht‘ ich mich an im Sonnenstrahl!
Da ich schon lange aufgewacht,
Hab‘ ich noch vor mich hingelacht
Und lag und lag noch halb im Traum
Und lachte in den Kirschenbaum.
1. Auflage 1900
Soll ich euch was verraten? Zumindest eins der beiden Mädchen trägt auch heute noch gerne karierte Blusen und kurze, blaue Hosen. Ist das nicht schön?