Kleiner Spaziergang durch Sarralbe an einem verregneten Sonntag – Oder: Brat mir bitte keinen Storch!

Es regnet Bindfäden. Jeder weiß: Wer sich an einem nassen Sonntag auf dem Sofa herumdrückt, wird tranig und übellaunig. Außerdem gibt es Schirme und Regenjacken mit Kapuze. Wer sich jetzt nach draußen wagt, bekommt die Chance, Städte und Gemeinden von ihrer anderen, melancholischeren Seite kennen zu lernen. In unserem Falle Sarralbe.

Dabei war die kleine Stadt am Rande der Nordvogesen nie so pittoresk wie ihre elsässischen Schwestern entlang der Weinstraße. Jeglichem Puppenstuben-Klischee würde schon das riesige, hypermoderne Chemie-Werk am Ortseingang im Wege stehen. Ein schillerndes Ufo, das sich klammheimlich auf den Wiesen am Ortsrand niedergelassen hat und geblieben ist. Davor, dicht gedrängt eine Reihe unscheinbarer Ziegelhäuser. Eine Kulisse wie aus einem englischen Kohlerevier. Our house in the middle of the street. Ich assoziiere hart arbeitende Menschen, Kohlsuppe um 12 und billige Schminke für die Kleinstadt-Disco am Samstagabend. Die ältere Schwester blockiert deshalb stundenlang das Badezimmer. Das, was jeder aus der unteren Mittelschicht kennt. Im Zentrum dann eine breite Straße, gesäumt von unspektakulären Bürgerhäusern, die schon bessere Zeiten gesehen haben. Kein Jugendstil, kein Fachwerk. Dafür eine neo-gotische Kirche, auf die alles hinausläuft. Die Reste eines mittelalterlichen Stadt-Tors. Warum also, um Gottes Willen, sollte man hier halt machen?

Farbig auf den zweiten Blick: Sarralbe

In Saaralbe ist nichts offensichtlich. Aber vieles liegt in der Luft. Erinnerungen an die Kindheit. Der Geruch herbstlichen Laubs auf regennassen Straßen. Das leicht muffige Odeur alter Häuser. Kleine Geschäfte. Wie aus den Sechzigern. Die Deko: Silberne Glitter-Girlanden, kleine Gipsfiguren, eine Weihnachtspyramide aus verblichenem Holz. Was der Familienschatz so hergibt. In einem kastenartigen Bürgerhaus ein Elektroladen mit spärlicher Auslage. „Wer kauft denn hier noch ein?“, frage ich mich. Ich hoffe, alle. Frankreich, wie ich es liebe. Eine Kebab-Bude leuchtet grell auf den Asphalt. Schon zum dritten Mal rasen zwei gelangweilte Jugendliche auf ihren Vélos an uns vorbei. Aus an den Lenker montierten Handys wummert arabischer Techno. Mein Mann und ich lustwandeln. Plitsch, platsch.

In Sarralbe gibt es kein Das-muss-ich-sehen. Hier entdeckt man. Ist überrascht. So von La Maison des têtes, mit den gemeißelten Steinköpfen berühmter Lokal- und anderer Größen. Ein Who-is-who in Sandstein. Ob Jeanne d´Arc wirklich so ausgesehen hat? So unheroisch. So normal? Wir folgen einem Wegweiser: Moulin. Schmuckloser Beton ragt vor uns auf. So gar nicht Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Ehrlicher. Hier geht´s nicht weiter. Wieder zurück. Die kleine Stadt macht auf sich aufmerksam. Dezent, detailverliebt, poetisch. Man muss sich schon ein bisschen anstrengen, um Illustres zu entdecken, den Hals recken – auf der mittelalterlichen Porte d´Albe dreht sich eine zierliche Nixe als Wetterfee. Und fast übersieht man die ins Trottoir eingelassenen Metall-Vignetten, die den Parcours des Cigognes anzeigen.

Der Storch also. Genauer gesagt: der Weißstorch. Protagonist unzähliger Märchen, Mythen, Fabeln, Bauernregeln vom Orient bis nach Skandinavien. Seit 1871 Symbol für das Elsass und der Topseller in Souvenir-Läden. Und nein, die lothringischen Autokennzeichen der Region 54 tragen keine drei übereinander fliegenden Bumerangs, sondern stilisierte Störche. Ehemals, so erzählt eine Legende, sei er ganz weiß gewesen. Als er aber ein Schlachtfeld überflog, soll er – aus Trauer über dieses Abbild überbordender menschlicher Dummheit und Grausamkeit – Gott gebeten haben, seine Schwingen in Asche tauchen zu dürfen. Ein tiefgründiger, mystischer Vogel. Sein poetischer Zweitname Adebar beziehe sich – so erfährt man auf einer der Schautafeln – auf Hulda, die germanische Göttin von Liebe, Fruchtbarkeit aber auch Tod. Man denke an das pädagogisch zwiespältige Märchen von Frau Holle. Ich meine, ich bin ja auch nicht gerade ein Putzteufel und möchte deshalb trotzdem nicht mit irgendwelchen ekligen Substanzen übergossen werden…

Wer im Frühjahr den Störchen bei der Aufzucht ihrer Jungen zusehen möchte, kann einen der zahlreichen Storchen-Parks im Grand Est besuchen. Oder eben den Parcours der Störche in Sarralbe durchlaufen. Über einem Storchen-Nest wurde sogar eine Webcam installiert. Seit jeher gilt der Storch als Symbol elterlicher Liebe und Fürsorge. Er bringt ja auch die Kinder. Nach erfolgreicher Lieferung sollte man sich mit einem Zuckerstückchen bei ihm bedanken. Bei unerfülltem Kinderwunsch, Achtung: Präteritum!, half es den Blick eines Storchenpärchens, am besten face to face, zu suchen. Eine Metapher für einfach mal Loslassen und Fliegen? Uneheliche Kinder wurden im Elsass gerne mal in Feuchtgebieten gefunden, also dort, wo der Storch mit Vorliebe herumstapft. Als seien sie der Mutter direkt vom Himmel in den Schoß gefallen. Ich hoffe nur, dass diese wunderbare Erklärung die armen Frauen vor Schrecklicherem bewahrt hat. Ausführlicheres erfahrt ihr auf den Schautafeln entlang des Parcours, der euch auch die übrigen Preziosen des Städtchens erschließt. Das Wahrzeichen von Sarralbe ist sinnigerweise der Frosch, den man auch in der Apsis des alles dominierenden Gotteshauses findet, der Cathédrale Saint-Martin. So Gothic. So – pardon – english. 1907 erbaut. Gruselige Wasserspeier allenthalben. Halloween-Feeling. Drumherum haben sich die Blätter der Bäume gelb gefärbt. Der richtige Platz für Enid Blytons Fünf Freunde. Sicher hätten sie hier ein Geheimnis aufgespürt. Sicher wären sie abends in eins der Häuser zurückgekehrt, um sich bei heißem Tee und Butterbroten aufzuwärmen. Fehlt nur noch ein kugelrunder Bobby auf dem Fahrrad samt Custodian-Helmet. Wie habe ich diese Geschichten geliebt. Besonders die Anfänge. Die lese ich zuweilen heute noch, um mich nach einem anstrengenden Arbeitstag geistig zu entknoten. Da waren immer Ferien, und jede Menge Abenteuer in Sicht. Auf dem Boden entdecken wir endlich einen goldenen Wegweiser mit einem Storch darauf. Auf der anderen Seite des Turms wirbt ein großformatiges Plakat mit Riesen-Adebar für den kleinen Stadtrundgang. Irgendwie kommen wir vom Weg ab. Landen vor der Bibliothek. Auch so ein Kindheits-Platz. Diese hier lädt alle zum Lesen ein. En toute liberté. Wie beruhigend und schön. Dass es Leute gibt, die sich um Bücher kümmern, Phantasiewelten verwalten. Aber heute ist Sonntag. Ruhetag. Keine Revolution. Non. Pas aujourd´hui.

Hell erleuchtet eine Boulangerie-Pâtisserie. Kleine Vogelscheuchen aus Stroh, orange, braun, gelb, hocken auf der Theke. Hier drin wimmelt es von Kunden, obwohl der Rest der Stadt im zunehmenden Regen wie ausgestorben wirkt. Wir kaufen zwei wirklich süße Creme-Teilchen und traben weiter durch den Regen. Friedlich. Abgesehen von den modernen Autos könnten wir uns auch in den Sechzigern oder Siebzigern befinden. Kleinstadtatmosphäre. Erinnert an Vivejoie-La-Grande, Bennoît Brisefers Heimatstadt mit dem sinnreichen Namen. Benni Bärenstark, Starke Staffan, wie er auf Deutsch bzw. Schwedisch heißt, ist eine Comic-Figur des belgischen Zeichners Peyo, der seinem Superhelden 1960 das Leben schenkte. Ein höflicher, wissbegieriger Junge, der mit schwarzer Baskenmütze und rotem Supermann-Umhang gegen das Böse kämpft. Seine Superkräfte verlassen ihn jedoch, sobald er einen Schnupfen bekommt.

Und während ich so an den gutmütigen, mutigen Bennoît mit seiner kleinen Schwäche für Süßes denke, denke ich auch an das Erstarken der Rechten in Europa. Wie lächerlich ist es 2019 eigentlich noch, sich wegen Hautfarbe, Religion, Herkunft in die Wolle zu kriegen? Und wer glaubt wirklich, dass unter deren Knute irgendetwas besser würde? Am Ende heißt es nur: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Differenzierungen stören da gewaltig. Ich denke aber auch an die vielen Menschen, die mit offenem Herzen auf Menschen der jeweils anderen Kultur zugehen – was ein wechselseitiger Prozess ist – die beim lauten Geschrei der Rechten allerdings nicht mehr wahrgenommen werden. Was schade ist, da wir aus dem Positiven schöpfen sollten. Aus ständig propagierter Ohnmacht erwacht man nur mit üblen Kopfschmerzen. Ungenießbar für andere. Die meisten von uns wollen nicht mehr oder weniger, als allein oder mit ihren Lieben in Ruhe leben, sich frei entfalten zu können. Spießig? Vielleicht. Aber ein menschliches Bedürfnis. Allerdings: Menschen, die andere ausnutzen oder Schlimmeres gibt es überall auf der Welt. Jedweder Couleur. Auch das ist menschlich. Wie die Angst vor dem Fremden. Wir werden sie nicht verdrängen können, aber mit ihr umzugehen lernen. Die beste Methode ist, seinem Feindbild gegenüber zu treten. Seinen afghanischen Nachbarn mal zum Grillen einzuladen. In den seltensten Fällen werden wir dabei an einen Frauenmörder geraten. Eine syrische Kurdin aus meinem Integrationskurs hat eines Abends mit ihrer Familie die Matratzen in den Vorgarten geschleppt um ein Picknick zu veranstalten. Vorbeifahrenden – und fast alle blieben stehen – bot sie Tee und orientalische Süßigkeiten an. Sie liebt das Saarland, wo sie seit zwei Jahren lebt, weil die Leute hier so freundlich sind, sagt sie, und weil sie hier endlich Lesen und Schreiben gelernt hat. So geht Integration – von beiden Seiten.

Gleichwohl wurde ich, als ich in einem anderen Kurs einen ständig zu spät bis gar nicht kommenden Teilnehmenden zur Pünktlichkeit mahnte, von diesem als Nazi beschimpft. Mir blieb die Spucke weg. Ich hatte auch keine Lust, zu verstehen, was hinter dieser Verbalattacke stand. Ich war nur sauer. Aber sollte ich deswegen meine hohe Meinung über vierzehn liebenswerte Menschen im selben Kurs in den Wind schlagen? In solchen Momenten verblasst natürlich die positive Erinnerung an die Teilnehmende mit ihrem Picknick, weil sie nicht derb daherkommt. Zukunftsträchtiger, menschlich produktiver wäre sie allerdings. Genauso wie mir bleibt den „Ossis“ die Spucke weg, die derzeit nicht nur von der Presse in ihrer Gesamtheit als rechts dargestellt werden. Genauso geht es dem Araber, dem wie selbstverständlich Vielweiberei unterstellt wird. Wann geben wir endlich unser Baukasten-Denken auf und sehen stattdessen den einzelnen Menschen? Probleme müssen angesprochen werden, um sie lösen zu können. Wir befinden uns zurzeit im Bällchen-Paradies der Schuldzuweisungen. Global. Und da wird die Luft zum Atmen langsam knapp.

Ich denke an den IS, der Menschen terrorisiert, ermordet, zumindest aber aus ihrer Heimat vertreibt. Niemand verlässt so einfach sein Haus, seine Familie und setzt sich einer Traurigkeit aus, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird. Und wenn ich hier so entlang spaziere, durch diese kleine Stadt, dann merke ich, wie wichtig es ist, dass wir eine haben. Eine Heimat. Nicht jeder ist in seiner Heimat geboren. Manche verlassen sie freiwillig, manche müssen, manche wollen bleiben. Manchmal ist Heimat in einer Situation. Wir spüren sie. In einer Landschaft. Im Kreise lieber Menschen. In einer Erinnerung. In einem Traum. Wir müssen sie immer wieder suchen. Immer wieder. Zusammen.

Sarralbe ist eine französische Gemeinde im Département Moselle in der Region Grand Est. Der Ort gehört zum Arrondissement Sarreguemines und ist Hauptort des Kantons Sarralbe. Sarralbe hat 4556 Einwohner auf 27,29 km² und ist hinter Saargemünd und Bitsch die drittgrößte Gemeinde des Arrondissements. Quelle: Wikipedia

Also rein in die Gummistiefel und vergesst den Regenschirm nicht!

Eure Stina

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